Spurwechsel oder mit Vollgas durch das Leben

Die einen mögen es gemütlich und beschaulich im Kreise der Familie. Sie heizen den Ofen an, wenn sie frieren, die anderen setzen auf das Lebensmodell eines emphatischen Weltbürgers, der den Knopf seines Mantels schließt, wenn er friert. So wie viele Gegenredner uns glauben machen wollen, ist der Kosmopolit ein abstraktes Modell, das unstet und flüchtig ist, das ohne Prinzipien darauf aus ist, im selbst gewählten Freiraum seinen Egoismus auszuleben und die geerbten Goldmünzen verscherbeln zu wollen. Oder ist ist der Kosmopolit ein Mensch, der aus den Erfahrungen, die er außerhalb seines sozialen Umfeldes macht, Schlüsse zieht,  das Verständnis und das Zutrauen für das Fremde gewinnt und daraus die Liebe zum Eigenen erwächst?

Beide Geistesrichtungen werden trotz gegensätzlichem Leitgedanken immer etwas gemeinsam im Herzen tragen, ein Gefühl, das man Heimatliebe nennt. Es sind die Momente, die sie ein Leben lang begleiten, an denen sie wachsen und manchmal auch scheitern. Eine Wiederholung findet nicht statt und ein Strickmuster für das Leben gibt es nicht. Und ganz gleich, für welches Muster wir uns entscheiden, es bleibt immer die Rückblende auf die Vergangenheit, gleichgültig, ob es sich um eine fröhliche oder tragische Kindheitserinnerung handelt.

Es liegt in der Natur des weltzugewandten Menschen, dass er seine Neugier nach dem Leben wie ein ungelesenes Buch aufsaugt und es kaum noch erwarten kann, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Das hat sicher seine Reize, aber auch seine Schwachstellen, so wie alle Lebensformen, die uns mit Unübersehbaren und Missgeschicken konfrontieren. Manchmal ist es lustig und manchmal zum Taschentücher schmeißen. Aber nichts tun und warten wäre so, als würde man im Alltagstrott vergessen zu atmen.

Dann halte ich es doch lieber mit dem Motivvergleich der Gebrüder Grimm „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen.“ Aber müssen wir uns denn vor Herausforderungen fürchten? Sind sie nicht die Meilensteine im Leben, die uns stärker machen und die unseren Horizont erweitern?  Sollen wir bleiben, wenn kein Stein mehr auf dem anderen steht? Müssen wir akzeptieren, wenn es um uns herum zu eng geworden ist und die Mauern nur noch Schatten spenden?

Auf der Suche nach meinem  Spurenwechsel fand ich sie, die  Mimmi, eine Frau wie Iris Apfel, bunt und mutig, auf Gleis Acht, das dort endete, als sie gerade neunundfünfzig geworden war, damals, als einer ihrer Träume von der Hochzeit platzte wie ein Autoreifen auf der Straße  von Peine über  Pattensen nach  Paris. Der Ring fiel ins Wasser, der Mann hielt es mit der erneuerbaren Energie und Freunde mit der Nachhaltigkeit. Zuerst nahm es ihr den Atem, dann die Luft, was blieb war die eine Entscheidung, die ihr ganzes Leben veränderte. Sie packte ihre Existenz in einen einzigen Koffer und setzte alles auf eine Karte, die sie richtiger für ihr Leben fand, als auf ausgetretenen Pfaden weiter den Zerrbildern ihrer Vergangenheit nachzutrauern. Denn nur im Theater haben Dramen Platz, die in der Öffentlichkeit gescheut oder missbilligt werden. Umzüge sind nichts für Jammerlappen, sie sind etwas für Mutige, die nicht mehr und nicht weniger zu verlieren haben. Es war an der Zeit, ihre Wunschliste mit den Absichten, Sehnsüchten und dem jungfräulichen Fleckchen Erde auszubessern.

An das „Grüß Gott“ gewöhnte sie sich recht schnell, aber nicht an das, was es ausmacht, sich heimisch zu fühlen. Was dagegen sprach, war die Anonymität der Großstadt und die Einsamkeitsfalle, in die sie gerutscht war und die sie fest im Würgegriff hielt. Betonklötze, ausgewaschener Asphalt, Wohnheime, die schrecklich verwohnt aussahen, überfüllte Mülltonnen, die den Weg zum dunklen Tunnel zur S-Bahn säumten nagten an ihren Selbstzweifeln und begünstigten das Verlangen zum Meuchelmord am Makler. Der Bus kam stündlich und zog am Rand der Stadt um die Schleife, an der man aussteigen musste, um in die nächste Bahn zu steigen, die man nur benutzt, wenn man zu jung, zu alt oder zu arm ist, ein Auto zu fahren. Bekanntschaften erwiesen sich als flüchtige Nähe, deren Marktwert Heiratsschwindler, geizige Intellektuelle und Gebrechliche bestimmten. Und dann saßen sie dort, ruhten sie, lehnten sie, beutehungrig,  in dieser berühmt-berüchtigten Goldgrube, von dort aus die betuchte Gesellschaft gut zu beobachten war,  die gerade an den Wochenenden ihre Botschaft auf dem Leib trug. Die Fingernägel rot und lang, der Ausschnitt war ein Angebot und deren Leben wie eine zweite Biografie, die genauso möglich gewesen wäre wie die, die zufällig ihre eigene geworden wäre. Dualismen, die sich ihrer komfortablen Lage bewusst waren, gaben mit ihrer mimischen Darstellung alarmierende Klarheit darüber, großzügig Abstand zu halten.

So saß Mimmi im Sommer auf ihrem Balkon und wunderte sich, während die ganze Stadt vor der Hitze an das Wasser floh. War dieser Schritt notwendig, traf Mimmi zum damaligen Zeitpunkt die richtige Entscheidung? Was machte es aus, in diese Stadt zu ziehen? Irrsinn oder der Glaube, dass das neue Licht darüber hinweg trösten kann, dass das Leben kurz ist? Auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird und die Protagonisten geliehen sind. Film und Traum haben eins gemeinsam, man ist gern in ihrer Gesellschaft und ebenso verlassen in ihm.

Während sie sorgfältig ihre Sachen in den Schrank legte, wurde ihr bewusst, dass ihr Leben nunmehr wieder ein  Jahre fortgeschritten war. Der Wind teilte ihr Haar bereits am Hinterkopf, so dass der graue Ansatz zu sehen war. Draußen wurde es allmählich kälter, die Tage wurden kürzer, bald würde es Weihnachten werden und ein einsames Fest die Stimmung belasten.  Sie war in einem Alter, in dem man seinen Platz gefunden haben sollte. Aber wo war der Platz mit dem Glück? Ein Partner kam nicht mehr in Frage, den hatte sie sich abgeschminkt, dafür war sie zu realistisch, für Zeitfresser fehlte ihr die Geduld und oberflächliche Bekanntschaften erwiesen sich meist als unverbindlich. Und nur wenigen fiel es auf, dass aus dem blonden Mädchen eine stille Frau geworden war.

Aus irgendeinem Impuls, es mag eine plötzliche Idee gewesen sein, folgte sie, entfernt von jeder Verfeinerung der Lebensqualität, den Wolken bis in die Berge und versprach sich  erquickliche Momente, Zuversicht, Erlösung, Neuanfang. Die zwei Winter waren hart und schleppten sich fahl und schildkrötenartig bis zum Mai voran und der Sommer blieb nur wenige Wochen. Und das, was uns am langen Winter verzweifeln lässt, ist nicht nur die Kälte, sondern auch der Stillstand, Trübsinnigkeit garantiert. Abgeschirmt zwischen der schlafenden Hexe und der Fernbedienung, führten diese entstandenen Pendants zu ungläubigem Kopfschütteln, dass nicht nur der Enzian blüht, sondern die totale Isolation. Obwohl das Leben der Bergbauern, ihre familiäre Bindung, ihr Gottvertrauen und ihre dem Rhythmus der Jahreszeiten gehorchende Arbeit idyllisch wirken mag und ganz klar für eine Deutung optiert,  kann man die jeweils alternativen Interpretationen wohl nie ganz ausblenden. Die Provinz liegt außerhalb der Zeit, nichts ändert sich, alles bleibt gleich und noch dazu im Schatten und sie löst dieses unbestimmte Heimweh aus, das in dieser Natur nicht zu stillen ist.

Mimmi begann zu frieren, ja sie begann sich vor dem Leben zu fürchten. Woher kam dieses verdammte Gefühl, das alles, was ab jetzt auf sie zukam, ihr Leben nicht leichter machen wird? Ist es das Gefühl eines Heimatlosen, mal sehr intensiv, mal weniger spürbar und abhängig von der jeweiligen Tagesform?  Kurz vor Jahresende kommen die Einbrüche näher, Empfindlichkeiten nehmen einen immer größeren Raum ein und wir werden uns der Menschen bewusst, die uns nicht mehr umgeben. Mimmi wünschte sich, daß die Monate,  die kommen, wären schon im Frühling angelangt und sie selber um einige Monate klüger. Menschen leben nicht nur für die Zeit, sie brauchen ebenso Zeiten des Aufatmens und die Erfahrung, angenommen und erwähnt zu werden. Die Köstlichkeiten des Lebens marschieren nicht auf dem Weg vor uns her, sie sind so etwas wie eine Betrachtung, eine innere Ruhe, aus der sich die Quelle der Erkenntnis erschließt.

Der nächste Morgen schälte sich jetzt aus seiner Dunkelheit und Mimmi wollte wissen, warum der Weg, den sie eingeschlagen hat, neben denen, die sie schon gegangen war, wieder ein widersinniger war und ob es für sie immer bestimmt sein wird,  in die falsche Richtung zu laufen. Aber das Schöne an dieser Welt ist ja,  dass man in ihr auch mal verschwinden kann. Und genau mit diesen Gedanken setzte sie am nächsten Tag den Blinker nach links auf die Überholspur in Richtung Gotthardtunnel. Und irgendwie fühlte sich alles so an, als würde sie bald ein neues Land bereisen. Alles wird neu sein, alles wird besser werden, Pläne schmieden und alles in die Tat umsetzen, und das war das Schönste für ihr Herz. Mimmi wollte die Zeit bestechen, damit sie stehen bleibt. Blauer Himmel, weiße Wolken, eine gefällige Welt, im Radio die Musik bei der man den feindlichsten Verwandten verzeiht. Sie spürte ihr Herz schneller schlagen, sie spürte wieder Leben in sich, denn das Wichtigste war ihr abhanden gekommen, das Bewusstsein für eine ausgeglichene Work-Leisure-Balance. So federten Himmel und Erde über sie hinweg, wie so oft, wenn sie an Veränderung dachte. Und ein Grund hat viele Gründe. Dieses selbsternannte Sabbatical brachte mehr Licht in das Dunkel, als die Zeit, die ihr für die Umsetzung ihrer Absicht, das Land zu verlassen,  geblieben war. Aus dieser emotionalen Tiefe heraus spürte sie was ihr wichtig ist, wer sie ist und was sie erreichen will. Das Leben ist wie eine Brücke, über die wir manchmal gehen müssen, wenn rechts und links das Wasser am höchsten steht.

Seit vielen Nächten nun saß Mimmi an ihrem neuen Schreibtisch, ihr Blick fiel auf den See und auf die Berge und wenn sie nachts vor Entzückung nicht einschlafen konnte, luden die Lichter der Stadt sie zum Träumen ein. Sie verstand es, das Ernste leicht und das Leichte ernst zu nehmen. Freunde und diejenigen, die ihr das Gefühl gaben, eine Frau zu sein, bereicherten ihr Leben. Was dann geschah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren…

Die Schatten wurden länger, die Tage rau und die Nächte kühl. Diesmal brauchte es keinen Moment, in dem sie zögerte.  Sie war einmal um die Welt gereist und mehrmals stehen geblieben, ist weiter gelaufen und hat nur selten zurückgeblickt.

(weiter….)

1 Comment

  • Angelika März 19, 2018 at 5:46 pm

    Das ist so schön geschrieben, so einfühlsam, gerne würde ich mehr erfahren. Warte auf neue Blogs. Habe mir nie so viele Gedanken um die Zeit gemacht. Liebe Grüße, Angelika

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