Aus dem Tagebuch einer Seniorin

Es ist ein regnerischer Samstag, ein Abend an dem man am liebsten zu Hause bleiben möchte, aber diese festgefahrenen Stunden hinter der Tür fressen Geist und Seele auf. Als ich die Schuhe zögerlich überstreife wird mir klar, dass die Vernunft gewonnen hatte und ich noch das abgelegene Restaurant an der Stadtmauer aufsuchen würde. Die Straßen zeigten sich trist um diese Jahreszeit, es war Mitte Januar, nur ein Hundegebell erinnerte mich an Lebewesen, die es hier geben müsste. Maria, die rundliche aufgeschlossene Inhaberin begrüßte mich wie immer mit den Worten: „Meine Schöne, wie geht es Dir?“ „Setz Dich ans Fenster“. Was lieb gemeint war,  aber mit der Schönheit ist das so eine Sache, die liegt im Auge des Betrachters.

Am Tisch gegenüber sitzt Hildegard, sie ist gerade siebzig geworden, eine Frau voller Power und Selbstbewusstsein. Wir unterhalten uns und im schnellen Wechsel treffen ihre Kommentare  den Kern des Gespräches. Sie ist noch fit, wie man sagt. Aber das will sie nicht hören. Fit ist für sie ein Ausdruck, der nur ein Viertel von dem erschließt, was ein Ganzes ist.

Ihre einfachen Verhältnisse, in denen sie ihre frühe Jugend verbrachte, gestatteten es ihr damals nicht, nach Höherem zu greifen. Man möchte spekulieren, dass sie wie eine Gefangene ihrer selbst dahin vegetierte. Doch das Klagelied einzustimmen, steht nicht auf ihrem Programm. Sie wollte leben, sie wollte vor der Kulisse stehen, in einem Rahmen der ihrer würdig ist. Aus der grauen Maus wurde ein Schwan. Sie begann Philosophie und Germanistik zu studieren und verdiente mit ihrer grazilen Erscheinung, die sie heute noch spektakulär adelt, als blutjunges Model in der Fabrik der fabelhaften geklonten Figuren,  ihren eigenen Lebensunterhalt. Ihre Attraktivität weckte bei den älteren Herren Sympathie und Sympathie beschleunigt bekanntlich  auch den Aufbau anderer honorigen Bekanntschaften. So betrachtet hatte ihre Schönheit durchaus einen  Wert. Ein Professor, dessen Geburtsjahr deutlich vor ihrem gelegen haben musste, wenn sein Aussehen nicht trog,  verliebte sich in ihre nonverbale Raffinesse und in ihre weibliche Attraktivität. Gefühlte dreißig Jahre erlebte sie Wunderbares,  gespeist mit Nähe, Reisen und der ganz großen Hoffnung auf eine spätere Ehe. Doch daraus wurde nichts. Er brach aus dieser Idylle aus und schob fortan eine reiche Hotelerbin vor sich her. Hildegard lächelte dabei nicht still und fein vor sich hin, wie nach einem großen Sieg, die Schlacht hatte sie verloren. Das junge einstige Leben war der großen Liebe zum Opfer gefallen und die darauffolgenden Jahre waren nicht sturmerprobt. Sie war etwas ruhig geworden, diese Erinnerung hatte sichtlich eine Wunde berührt, die durch den Verlust entstanden sein könnte. Nicht viel zum Leben, nicht viel Freude und auch nicht viel, was sie noch tun könnte, um nicht an die gläserne Decke zu stoßen. Freunde waren weggezogen, verstorben und haben sich anderweitig orientiert. Was bedeuten da schon die paar Potenzprobleme der Männer, die sich auf das Selbstbewusstsein schlagen, wenn sanft abfallende Kurven eine Frau derangieren. Trotz ihrer guten beruflichen Qualifikationen kann sie heute nicht mehr auf den fahrenden Zug einsteigen. Das Problem ist, dass sich Frauen in ihrem Alter untereinander im Auftreten und im Denken begünstigen. Der Alterungsprozess scheint fließend und die innere Uhr blockiert  die Reflexion.

Hildegard ist neugierig geblieben, sie würde auch wieder etwas riskieren, eine Weltreise vielleicht, Seminare geben oder auch einen guten Freund finden, denn sie ist körperlich noch nicht erschöpft und erlebt gerade einen Kreativschub am Zenit ihres Schaffens. Es gibt keinen Gott da oben, es gibt nur etwas, das heißt „Mammon“. Auch deshalb muss sie heute mangels Altersvorsorge die eigene Lebensführung an ihrem geringen Einkommen anpassen. Denn das, was sie tagein und tagaus zusätzlich verdient, wird der Rente angerechnet und versteuert.

Für Hildegard, der man eine undefinierbare Präsenz bestätigt,  bleibt wenig Raum für gesellschaftliche Kontakte, Konzertbesuche und gesellige Abende in guten Wirtshäusern. In den kleinen Kneipen, in denen meist nur  konstruierte Begegnungen stattfinden, verkehren Stammgäste und Ausflügler mit sichtbaren Stildifferenzen, wie sie sagt. Ein paar Barbiepuppen, deren Mimikfalten unter Botox  versteckt waren,  um einem oberflächlichen Jugendkult zu frönen, hatte sie unlängst in einem netten Café kennen gelernt. Sie beklagten sich über mangelndes Interesse Ihrer Alphatiere im Allgemeinen und dass sie nun daran etwas ändern müssten. Mit ihren jungen Spielgefährten würden sie sich jetzt amüsieren und über den Rest des Lebens triumphieren.

Manchmal zerfließen die Grenzen wie in einem Zerrbild, das Wirklichkeit geworden ist. Ein groteskes Bild der zähen Möglichkeit, sich selbst zu überleben. Offenbar präsentieren  sich jene Karikaturen als eine Art „Gattung Wunsch-Erfüllung“, die anzustreben sich nur die Privilegiertesten leisten können  und sie werden folglich überzeugend analysierten Imperativ der heutigen Gesellschaft zugeordnet, nach deren Gusto man beständig  „sein Leben ändern“ muss.  Für Hildegard blieb am Ende der flüchtigen Begegnung nur ein breites Lächeln übrig.

Hildegard wird sich nicht mehr verändern, für sie wird trotz der eingeschränkten Möglichkeiten das Glas immer wieder halb voll bleiben, auch wenn sich im Moment nicht viel ändern wird, aber sie weiß, eines Tages wird es anders sein, denn Optimisten leben länger. Und wie eh und je wird sie Friedhöfe weiträumig umfahren. Ihr wird es gelingen, weiterhin hellwach bleiben und ihre Umwelt mit kritischem Blick wahrnehmen. Und vielleicht wurde ihr die Unsterblichkeit als Mitgift auf den Weg gegeben. Zum Abschied reichte sie mir ihr Tagebuch, in das ich einen Blick werfen durfte. Wir werden uns wieder treffen, ganz bestimmt an einem Abend, wenn es Frühling wird.

3 Comments

  • franz Josef maria gell Januar 21, 2019 at 7:52 pm

    Ein wunderbarer Beitrag. Tiefgründig und Herzerwärmend.

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  • Simone Siemers Januar 23, 2019 at 5:57 am

    Wundervoll geschrieben geht ans Herz

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  • Johann Antonia C. März 2, 2019 at 8:18 am

    Und ich würde euch begleiten, wenn ich dürfte und die Gelegenheit hätte. Amüsant geschrieben, liebe- und respektvoll.

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