Wenn‘s einfach wär, würd‘s jeder machen“, lautet der Titel eines Buches von Petra Hülsmann. Betrachtet man diesen Satz aus der Sicht des Älterwerdens, entquellen aus der Lebensphase Schulzeit persönliche Bilanzen, die während eines Klassentreffens mehr als offensichtlich werden. Die Gründe dafür sind multifaktoriell. Sie reflektieren teilweise das soziokulturelle Erbe von Werten und Normen, in das man hineingeboren wurde und dessen Varianzen partizipativen Verwirklichungschancen im gesellschaftlichen Leben. Für viele ging die Rechnung auf, ihre Leistungen sind zu einem bleibenden Erfolg explodiert, andere zogen später Zwischenbilanz. Fünfundvierzig Jahre ist es nun her, dass wir es hätten schaffen können, ein Genie zu werden, wenn das Leben nicht schlichtweg einen anderen Entwurf bereitgehalten hätte. Fundamental sind gleichwohl die eigene Zufriedenheit und der Anspruch an sich selbst. Längst hat dieser Trend auch die Philosophie erreicht. Zentriert um die Leitbegriffe „ Erfolg und Glück“, geht es hier auch um das „gute Leben“, welches auf das Individuelle, Besondere, Einmalige menschlicher Existenz verweist, und dazu ermutigt, genau das zu tun, und aus sich zu machen, was niemand sonst vermag.
Das Wort „ZURÜCK“ steht für mich beharrlich wie ein schwarzes Schild ohne Namen, es fühlt sich an wie ein Ort auf einem fremden Planeten. Nicht der Jugend wegen, nein, der Kindheit wegen. Und plötzlich war sie wieder da, die Geschichte, die Lippenbekenntnisse, die anerzogene Intoleranz anders lebenden gegenüber, die heute nicht mehr gültig ist, die aber noch wie ein schwerer Sandsack auf meinen Schultern lastete und Kindheitserinnerungen wachrüttelte. In meinem Bemühen, diese emotional zu unterbinden, scheiterte ich mit jedem Zentimeter, den ich meiner früheren Heimat näher kam. Es ist wie ein Autounfall. Man weiß, man sollte einfach weiterfahren und das Ganze vergessen, allein, man kann den Blick nicht abwenden. Schon lange waren die Hintergründe verblasst und entfärbten mit den Jahren tief liegende Emotionen, so daß diese gespaltene Zeitfolge linear kurz vor dem Klassentreffen samtartige Gemütsbewegungen freisetzte, ja eine regelrechte Ergriffenheit auslöste, die näher lag, als die 800 Kilometer, die ich kurz vor Weihnachten dorthin zurücklegte. Schon allein um das Bemühen, dass dieses Treffen ein weiterer Meilenstein in meinem Leben sein könnte: „das Öffnen der expressiven Welt“ und mein „Interesse an den alten/neuen Menschen“.
Bald sollte sich der Weg in eine Dorfstraße und in einen Feldweg teilen, die die erhabene Stimmung des menschenleeren Ortes spiegelten. Einsam und verwaist standen einzelne Häuserreihen wie urbane Findlinge, deren künstlich wirkende Farbtöne sich durch den aufkommenden Nebel noch intensivierten. Entlang der winterlich angehauchten Felder mit ihren dunklen Falten, führte mich der steinige Weg zu einem entlegenen Gasthof, der etwas in die Jahre gekommen war. Urtümlich, aber mit einem gewissen Flair, fielen darauf ein paar Schatten der Vergangenheit, die nicht mehr diese frühere Lebendigkeit ausstrahlte. Ich suchte nach jenen Spuren, in denen sich etwas Gegenwärtiges mit meinen eigenen Interessen berührte. So etwas wie einen kleinen Impuls, wenn sich das Leben gerade in einer anderen Richtung öffnete. Aber wenigstens sollte es hier etwas zu trinken geben, ein Argument, tief durchzuatmen und die Tür zu öffnen.
Fremde Menschen starrten mich an, zu denen ich im ersten Moment keinen Zugang fand. Aber das war doch, da stand doch, das ist doch… und nur einen Augenblick entfernt erkannte ich sie, die Clique, die der zerfaserte Jahrgang von damals nie hergegeben und die mich in Sekundenschnelle in die Schulzeit zurückexpediert hat. Das mag vielleicht den einen oder anderen alarmieren, weil man sich dann wieder wie ein dussliger Teenie fühlt, aber andererseits eine gereifte Persönlichkeit in den Raum stellt. Plötzlich standen wir uns gegenüber, fragend, taxierend und kalkulierend, die ehemaligen Klassenbesten und diejenigen, die damals einfach so hinterher geschwommen waren. Ohne den vollständigen Lebensweg aller anderen zu kennen, verblüfften wir mit Schlagfertigkeit und entwickelten auf diese Weise Momente und Geschichten voller Witz und Melancholie. Wir waren überrascht, von der Neugier aufeinander, die etwas Versöhnliches mit sich brachte. Und bei keinem entstand das Gefühl, dass da irgendetwas bewertet wird. Denn auch der Abiturient, der heute einen Titel vor seinem Namen trägt, scherte sich nicht um den Dreiklang: „Mein Haus, mein Job, mein Boot“, der große Auftritt war noch nie sein Ding. Lückenlos legte jeder von ihnen einen erfolgreichen beruflichen Weg zurück und kaum einer hat sich aufgrund des „Klimawandels“ in einer Paarbeziehung verirrt, so wie ich, die in den Stürmen des Lebens ganz und gar vergaß, dass es außer um den Erdball fliegen, noch etwas anderes „Gscheits“ gibt.
Hier und dort vernahm ich ein unterdrücktes Lachen angesichts der eigenen, aus heutiger Sicht verheerenden Abschlussnoten. Es tat gut zu merken, dass man nicht der einzige Depp war und dass die anderen auch einfach nur ihr Leben leben. Es war, als begründete die gemeinsame Wegstrecke von einst das Interesse an der Person, das vor oberflächlichen Urteilen schützt.
Es ist enorm, was erhalten bleibt an persönlichen Macken, Mimik, Eigenschaften, bis hin zum Tonfall. Und alles war wie früher, nur die Haare sind mit den Jahren etwas lichter, etwas grauer geworden, die Taille und der Bauch etwas ausgeprägter. Doch was ist eigentlich mittlerweile in der Realität passiert? Mit den anderen, aber auch mit einem selbst?
Ich habe die Stunden nicht gezählt, in denen wir kreuz und quer offen und unpoliert über alle Lebensfragen sprachen, über Ängste, Hoffnungen und das Wissen über den Tod, der bereits einige aus unserer Mitte über den Regenbogen mitnahm. Als allmählich alle Kerzen herunterbrannten, spülten die vorgelesenen Namen der Verstorbenen noch einmal gefühlsbetonte Bewegungen in uns allen hoch und es breitete sich im Raum eine Stille aus, die man fühlen konnte wie Smog ohne Umrisse und jeder für sich nahm aus dieser Message die eigene Sterblichkeit wahr. Achtundzwanzig Menschen im stillen Gedenken und draußen wurde es langsam dunkel.
Wie heißt es doch so schön? „Leben ist das, was dir passiert, während du gerade dabei bist, Pläne zu machen“? Auch ich hatte einen Plan, einen ausgereiften, ausgeklügelten von dem nichts übrig blieb, als nur der Plan, denn das Schicksal teilte mir etwas anderes mit.
Es waren die schönsten Stunden, die die eigenen Empfindungen auf der Rückfahrt zum Überfließen brachten und manchmal sah ich nur verschwommen die Autobahn auf beiden Seiten. Eine Zeitreise mit der Erkenntnis, dass doch alles ganz gut war, so wie es eben war. Und ich werde wieder kommen, in fünf Jahren, an denselben Ort, zur gleichen Zeit. So ist das Leben, und nicht übertrieben.
großartig. ich kann es gut nachempfinden. Das Wiederkommen wird schwieriger und das Ankommen ebenso. Denn die Anzahl der Teilnehmer wird abnehmen, die Tragik wird zunehmend Teil eurer Gemeinschaft werden und deshalb finde ich es enorm wichtig sich so zum Leben zu bekehren, wie du es machst, liebste Stephanie. Ich freue mich auf weitere Leckerbissen deines literarischen Angebots.
EXELENT mit einem Hauch von Poesie und
Nostalgie.
Hervorragend – das ist nicht nur deutsche Sprache in Reinkultur, sondern vor allem sind Empfindungen auf den Punkt gebracht, die sicher viele Teilnehmer an diesem Treffen teilen.