Aufbruchstimmung

In diesem überaus bedeutungsvollen Augenblick, als der graue Morgen, es war Anfang Oktober, mir seine unangenehme Ausführung mit Nebel und Regen hinschleuderte,  die sich wie eine ungewollte Kreatur über mich legte und abwartete, wie lange ich dieses Maulwurfdasein unbeschadet überstehe, wusste ich, es war eine alptraumhafte Bestätigung, meine Umzugskisten wieder hervorzuholen.

Genau vor einem Jahr zog es mich, halb riss es mich in diese einsame Gegend, von der ich mir erhoffte,  endlich anzukommen, in einer heilen Welt zu leben, zwischen den Bergen und der Gewissheit, aufgeweckte wache Menschen kennen zu lernen. Mit jedem Atemzug gelangte neue Frische in mein Blut, der Himmel war so nah, so dass man fast die Hände in die Wolken tauchen konnte. Ein ruhiger, beschaulicher Ort, mit einer Sackgasse, die nicht weiter führte, als bis zu einem Zaun, der innehalten lässt. Ich richtete mich ein, als würde ich ein Geschenk auspacken und hundert Jahreszeiten erleben, bis mich das Alter mit seinen knochigen gierigen Händen unter den Schreibtisch zieht. Damals, der erste Herbst, ich weiß es noch wie heute, ich fuhr mit offenem Verdeck die Straßen entlang und konnte es nicht glauben, die Farbenwelt, eine Synthese von Geburt und Leben,  kein  Dichter hätte es anders beschreiben können. Es war wie ein Blick in ein Schaufenster, das täglich mit neuer Pracht das Auge fasziniert. Der erste Schnee hatte die Hochlagen der Alpen angezuckert und brüstete sich mit seinen feinen Eiskristallen in den nachfolgenden Wochen mit seiner ganzen Herrlichkeit, Flocken wirbelten im Spiel miteinander wild auf der riesigen Fläche auf beiden Terrassen und die kugelförmigen Buchsbäumchen versteckten sich unter einem weißen Kleid. Doch wenn eine Schneeflocke auf Wasser fällt, dann erzeugt sie einen schrillen hohen Ton… und der brachte eine entscheidende Wende, die Situation schien zu kippen.

Die anfängliche Euphorie bekam bald Risse, wurde allmählich löchrig. Es war nur eine Aufnahme, eine Annahme, eine Beziehung zu einem Ort, der für mich wie immer fremd und nüchtern bleiben sollte. Öffentliche Verkehrsmittel gab es nicht und der einzige bedrohliche  Waldweg  der zur Stadt führte, war an manchen Tagen unpassierbar, Bäume brachen unter der mächtigen Wucht des Schnees zusammen, Stürme, Starkregen und Hagel machten die Hanglage unzugänglich. Mächtige Berge bauten sich auf wie eine Wand, wie ein Feind, den ich besiegen musste. Meine Verzückung für die Wohnung, in der ich mich zunehmend wie in einem Hotelzimmer fühlte und jedes Zimmer unpersönlich machte, verlor nach und nach ihren Glanz, so wie ein ungetragener Saphir, der nur zur Geltung kommen kann, wenn man ihn als Einzelstück trägt.  Die umliegenden Pensionen beherbergten die letzten Gäste vor dem Wintereinbruch und eine geisterhafte Stille trat ein. Nur sternenklare Nächte brachen diese Dunkelheit. Das ältere Ehepaar vom Bauernhof gegenüber schien draußen zu überwintern,  denn sie saßen noch immer auf der Bank vor der Eingangstür mit einer Katze auf dem Schoß, einem ihnen zu Füßen liegenden Hund und schauten starr vor sich hin. Zu meinen Nachbarn, junge Leute mit kleinen Kindern, fehlte der Bezug, ich wollte unantastbar bleiben, nicht gerüttelt, und nicht gläsern werden.

Ich erkannte, dass das Leben mich ein stückweit nach hinten geworfen hatte, die ersten grauen Haare waren der sichtbare Beweis dafür. Und nicht nur das, meine Zeit war gekommen, darüber nachzudenken, wie ich meinen Lebensabend als Frau in Würde ausdehnen kann. Carlos Williams sagte einmal in einem seiner Gedichte, wenn jemand, den man liebt, stirbt, nimmt er ein Stück von der Welt mit sich, das „frühere Leben“, und so ist es eben. Mit Benny, meinem Nachbarn, hatte ich einen losen Kontakt, einen den man hat, wie Tinte auf einem weißen Blatt Papier, nicht geschrieben, nur eine Farbe, blau. Böse böse Zungen behaupteten, er sei schwul, was bei mir die heikle Frage aufwarf, wie er in dieser Einöde lieben, lachen und aufgeräumt sein kann. Selten tranken wir einen Kaffee oder auch einen Wein, sprachen über Weisheiten, Lebenszeiten und Zeichen, über Rucksäcke,  über Wanderwege, über allgemeinen Nonsens und über das Glück, ein Mensch zu sein.

Die einzige Weinstube im nächstgelegenen Ort spuckte Schlepper, Nepper, Vollidioten und den ganz harten Kern um zwanzig Uhr wieder aus, denn der Ausschank wurde von den Amtskollegen streng kontrolliert. Fehlinterpretation, dass dieser Fleck ein Standort der Glückseligkeit ist. Einige gespaltene Atome hielten es mit dem Puff, andere Müßiggänger glaubten an eine Erlösung im Wald, ein ganz anderer Zeitfresser ersuchte um die Gunst mit Lack und Leder und ein Familienvater fand es schicklich, einfach mal dabei zu sein. Sie leben in einer anderen Dimension, wie ein versehentlich auf diese Erde gefallener Meteorit. Soviel konnte ich gar nicht trinken, Zweideldum und Zweideldei wie eine Nachtischlampe auszuschalten und wie ein Affe auf den Baum zu klettern. Ich  fühlte mich eingeklemmt und wie mit der Nadel auf Stoff festgesteckt, zwischen Büchern, Publikationen und  und der Tatsache, dass hier zwei  Welten auseinander klafften, eine die nach außen strahlt und eine die nach innen schreit. So saß ich ein Jahr wie ein Maulwurf im Feld und verlies es nur, um Nahrung zu besorgen.

Jung mit seinem wilden, saftigen, poetischen Ausdruck, setzte der Frühling seine ersten Zeichen. Noch immer fühlte ich  mich träge, schlaff, wie ein Organismus einer unbestimmten Spezies, eine Qualle vielleicht, die sich, gleitend, taumelnd an der Oberfläche eines Wassertümpels hält. Die Bürde der Irrelevanz oder auch die Frühjahrsmüdigkeit?  Denn nichts, aber auch gar nichts taute im Frühling meine Lebenslust auf. Ich glaube manchmal, daß alle Männer und Frauen mit Verstand und gutem Willen im Grunde wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Manchmal leisten sie Widerstand, aber darunter, unter diesem Widerstand wissen sie Bescheid.Auch ich wusste es.  Die Sanduhr war abgelaufen, das letzte Körnchen hatte nichts Haftendes, Saugendes, wie wenn er sich von dem einen Augenpaar losreißen müsste, um sich in das nächste zu versenken.

Es wurde Abend, die Zeit wurde in dieser Nacht  umgestellt, im Radio spielten sie die Musik, die mich an meine Jugend erinnerte. Ich bekam Hunger nach Veränderung, nach dem Geruch von Leben, nach Fußgängerstreifen, nach gehetzten Passanten, die irgendeinen Ort zustrebten und nach dem pulsierenden Verkehr in einer quicklebendigen Stadt. Ich legte eine letzte Atempause ein und schaltete meinen Laptop an.  In den darauffolgenden Tagen geschah so etwas wie ein Wunder. Postwendend fand ich einen Nachmieter und meine Besichtigungstermine fügten sich wie kostbare Perlen auf eine Kette. Einige Tage später unterschrieb ich den neuen Mietvertrag. Das Wunder von dem ich spreche, hat mein Leben auf den Kopf gestellt und hat mir die Kraft eines Grashalms verliehen, der seine zarte Spitze durch eine dicke Betonschicht bohrt.

Mein Wunder hat mich am Schopf gepackt. Es hat mich dazu gezwungen, für das einzugestehen, was ich brauche und das zu beenden, was mir nicht mehr guttut, auf jene strenge, zugleich liebevolle Art, die nur echten Wundern vorbehalten ist.

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